Ein sehr persönlicher Post über das erste Jahr “danach”.
Es ist der 31. März. Heute vor einem Jahr habe ich hier auf unserem Blog die Frage gestellt: wie wollen wir leben? Am Abend desselben Tages verstarb mein Vater. Während ich dies schreibe, habe ich einen dicken Kloß im Hals und die Tränen schießen mir in die Augen. Das Jahr, das folgte, war unheimlich intensiv: die Frage „wofür nutze ich meine Lebenszeit?“ wurde enorm präsent, nachdem mir unsere Sterblichkeit so plakativ vor Augen geführt worden war. Darüber möchte ich aber heute gar nicht so ausführlich schreiben, sondern ich möchte Euch vielmehr erzählen, wie ich mit der Trauer umgegangen bin. Heute, ein Jahr später, kämpfe ich immer noch mit den Tränen, wenn ich darüber spreche, aber ich habe meinen Frieden damit gemacht, dass dieser wunderbare Mensch, der mich so geprägt hat und dem ich so unendlich viel verdanke, nicht mehr da ist.
Was mir geholfen hat, war vor allem eins: Musik. Eigentlich war es fast Zufall – aber rückblickend sollte es wahrscheinlich genau so kommen. Auf dem Schulkonzert meines Sohnes Ende Mai war als erstes der Auftritt “unserer” Klasse dran. Anschließend, weil es schon nach der Bettzeit meiner Kinder war, wollte ich heimfahren. Zuvor warf ich jedoch noch einen Blick ins Programm des Konzerts und sah im zweiten Teil ein Stück, das mich interessierte. Ich blieb also doch sitzen, zusammen mit meinem Sohn, und hörte Programmpunkt für Programmpunkt. Bis ein Klavierstück gespielt wurde, das ich bis dahin nicht kannte. Es ist im Nachhinein kaum zu beschreiben: ich hatte vom ersten Ton an Gänsehaut, zum Ende dieses Stückes hatte ich Tränen in den Augen. Warum, wusste ich nicht. Ich war tief im Herzen berührt und blieb bis zum Schluss des Konzerts sitzen.
Später fand ich die Erklärung: auf dem Schulkonzert gespielt wurde das Stück „Monday“ von Ludovico Einaudi. Derselbe Komponist, dessen Stück „Una Mattina“ wir für die Trauerfeier meines Vaters gewählt hatten. Die Handschrift des Komponisten war unverkennbar und deshalb war mir „Monday“ auch so unter die Haut gegangen. Das Album, auf dem dieses Stück enthalten ist, ist „Divenire“, das ich mir direkt über Spotify aufs Handy lud. Den gesamten Sommer über habe ich in relativ regelmäßigen Abständen dieses Album gehört.
Immer, wenn ich Abends in der Werkstatt saß, mit Abdrücken arbeitete und sie für die Fertigung der Schmuckstücke vorbereitete, hörte ich diese wunderschöne, zarte und gleichzeitig kraftvolle Musik. Jedes Mal ließ ich die letzten Wochen mit meinem Vater Revue passieren und weinte. Das, was dabei passierte, war, dass ich immer und immer wieder in die Trauer eingetaucht bin. Ich habe sie nicht von mir weggeschoben, habe sie nicht ignoriert, sondern immer wieder gefühlt. Das war schmerzhaft, aber mit der Zeit habe ich gelernt damit umzugehen. Irgendwann war ich soweit, dass ich nicht mehr jedesmal hemmungslos weinte, sondern nur noch einzelne Tränchen kullerten.
Ich habe dieses Album mittlerweile an verschiedenen Orten gehört. Einmal fuhr ich morgens mit dem Zug nach Hamburg, die Sonne strahlte, während wir über die Elbe fuhren, die Musik spielte, es waren die fröhlicheren Passagen zum Ende des Albums hin. So habe ich die Musik von Ludovico Einaudi auch mit positiven Dingen verbunden, mit Sonnenstrahlen und einem gewissen Heimatgefühl. Heute kann ich mich in diese Musik hineinfallen lassen und fühle mich geborgen. Ich verbinde damit eine gewisse emotionale Nähe zu meinem Vater und gleichzeitig einen inneren Frieden. Ich habe akzeptiert, dass er gegangen ist, und es ist in Ordnung.
Warum ich Euch das erzähle? Weil ich glaube, dass es wichtig ist, sich Raum und Zeit für die Trauer zu geben. Nicht im Alltag so weiterzumachen, als wäre nichts passiert. Immer wieder in ruhigen Momenten in die Trauer einzutauchen, bis man sie für sich annehmen kann. Musik ist da ein kraftvoller Begleiter, sie kann Erinnerungen und Emotionen wach werden lassen wie kaum etwas anderes. Gleichzeitig kann sie heilen, Hoffnung geben, Trost und Frieden.
Jetzt, ein Jahr später, beginnen wir für uns erst so richtig damit, Erinnerungen wieder rauszuholen. Wir sortieren Fotos, digitalisieren Kassetten und Videos, stellen uns ein Erinnerungsbuch zusammen. Diese aktive Trauerarbeit ist schön, aber ich bin froh, dass wir uns damit Zeit gelassen haben, um überhaupt in der Lage zu sein, die Bilder anzuschauen und uns daran zu erfreuen anstatt die frische Wunde aufzukratzen. Klar fließen dabei auch Tränen, aber sie werden begleitet von einem Lächeln.
Mein Papa ist übrigens bei all diesen Aktivitäten dabei. Er ist jetzt ein Diamant. Genauer gesagt, drei Diamanten. Ein weiterer Punkt, der mir unendlich viel Trost bringt, aber darüber erzähle ich Euch beim nächsten Mal mehr.
Ich schreibe selten so etwas Persönliches, aber heute ist es mir wichtig. Ich möchte, dass Ihr wisst, dass wir verstehen können, wie es sich anfühlt, mit Verlust umgehen zu müssen. Wir haben oft mit Menschen zu tun, die eine geliebte Person oder ihren treuen Vierbeiner gehen lassen mussten – oder kurz davor sind. Wir wissen, wie wichtig es ist, Halt zu finden: jemand, der zuhört. Jemand, der schnell reagiert. Jemand, der versteht, dass es in dem Moment nichts Wichtigeres gibt. Wir fühlen mit. Auch ich habe von meinem Vater noch Finger- und Handabdrücke – und nein, ein Schmuckstück haben wir daraus (noch) nicht gemacht. Es ist einfach gut, die Abdrücke zu haben und zu wissen, dass man sie irgendwann vielleicht in Silber oder Gold einarbeiten kann. In dem Moment des Verlustes ist das Wichtigste erstmal, dass man noch etwas festhalten kann. Alles Weitere wird sich später finden – und braucht Zeit.
Heute ist ein besonderer Tag für mich. Traurig, ja, aber auch voller Liebe und Dankbarkeit. Wir haben letztes Jahr einen Kirschbaum für meinen Papa im Garten gepflanzt – gerade blüht er wunderschön. Ich könnte mir kein besseres Symbol vorstellen.
Alles Liebe,
Eure Katja